Reisebericht – Auf den Spuren der Auswanderer-Familie Chrispinus und Eva Garmatter-Durtschi (1685)
Historische Besichtigungen und Rundgänge
Reisebericht – Auf den Spuren der Auswanderer-Familie Chrispinus und Eva Garmatter-Durtschi (1685) in Brandenburg
Bei den Recherchen zum Buch «Thierachern – Eine Reise durch Raum und Zeit» ist Hans Feuz, der Archivar unseres Vereins, auf die Auswanderungsgeschichte der Familie Garmatter aus Thierachern gestossen. Die beiden Eheleute sind mit ihren sechs Kindern im Jahr 1685 gemeinsam mit 13 anderen Berner Familien auf Einladung des Kurfürsten Friedrich Wilhelm nach Nattwerder nach Kurbrandenburg ausgewandert (siehe Glütschbachpost Nr. 3 und 4/2023). Die weiteren Informationen zur Geschichte der Schweizer Siedler haben ein so grosses Interesse geweckt, dass der Verein Geschichte Thierachern im Oktober 2022 mit Herrn Henning Heese in Phöben Kontakt aufgenommen hat. In sehr zuvorkommender Art hat Herr Heese in Zusammenarbeit mit Herr Dr. sc. Dietmar Bleyl ein Programm mit Besichtigungen und Referaten für eine zweitägige Fachexkursion vorgeschlagen. Nach umfangreichen Abklärungen und unzähligen Mailkontakten konnte die Exkursion in die Gegend westlich von Potsdam am 9./10. Oktober dieses Jahres stattfinden. Hier die wichtigsten Stationen unseres Besuchs.
Kaiser-Friedrichkirche in Golm
Begrüsst wurden wir acht Gäste aus der Schweiz und die sechs zugeladenen Nachkommen der Schweizer Siedler aus Deutschland (Dortschi, Garmatter, Suter, Hoffer und Kiener) von Frau Dr. Saskia Ludwig (Landtagsabgeordnete CDU), Frau Kathleen Knier (Vorsitzende Ortsbeirat Golm) und von Frau Prof. Löhmannsröben (Vorsitzende des Grossen Kirchgemeinderates). Letztere erörterte, dass den ersten Kolonisten in einem Vertrag mit 21 Artikeln unter anderem eine eigene Schule mit einem Schweizer Lehrer, die eigenständige Ausübung des bernisch geprägten protestantischen Glaubens mit einem Schweizer Prediger, die Befreiung von Steuern und von der Wehrpflicht und ein Rückreiserecht zugestanden worden waren. Vor allem die Ausübung des Schweizer Protestantismus und die Heiratsverpflichtung innerhalb der Siedler hat zum langfristigen Erhalt der sehr ausgeprägten Schweizer Identität beigetragen. Unweit der Kirche konnten wir einen ehemaligen Hof der Familie Garmatter und einen aktuell im Besitz der anwesenden Frau Kiener befindlichen Hof besichtigen.

Bei der Kaiser-Friedrichkirche Golm

Golm 1740 mit den Schweizer Hofstellen Zäch, Kiener, Schweingruber und Garmatter
Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Nach einem Spaziergang zu einem Punkt mit bester Aussicht auf den Golmer Bruch erklärte uns Dr. Bleyl, wie die Schweizer Siedler versuchten, ihren ersten Landbesitz im Golmer Bruch (Bruch = Sumpf/Moor) urbar zu machen. Wegen des einsetzenden Regens wurde der Vortrag frühzeitig ins Brandenburgische Landeshauptarchiv verlegt. Hier führte Dr. Bleyl aus, dass die Urbanisierung durch die Kolonisten zum Scheitern verurteilt war, weil der sandige Boden des Golmer Bruchs mit den damaligen hydrologischen Verhältnissen zu tief lag und das Land zwangsläufig immer wieder überschwemmt wurde. Darunter litten die Schweizer Siedler trotz unermüdlicher und harter Arbeit ganz enorm. Im Landeshauptarchiv zeigte und erläuterte uns Dr. Bleyl zahlreiche originale Dokumente und Pläne, die mit der Besiedelung der Schweizer zu tun haben.
Landungsstelle an der Wublitz
Kurz vor der Einmündung in die Havel bildet der Fluss Wublitz eine enge Stelle, über die 1685 ein begehbarer Steg führte. Genau bei dieser Halbbrücke legten die 101 Personen der 14 Auswanderer-Familien mit zwei Schiffen an und betraten erstmals den Boden ihrer neuen Heimat. Wenn wir Exkursionsteilnehmenden uns in die Lage der Einwanderer versetzen und uns deren Mühsal vor Augen führen, dann stellt sich unweigerlich ein beklemmendes Gefühl und ein grosser Respekt für die Menschen von damals ein. – Die Landungsstelle würde sich wohl eignen, um zum Beispiel mit einem schlichten Gedenkstein an die Geschichte der Schweizer Kolonisten im Golmer Bruch zu erinnern.

Landungsstelle mit heutigem Steg
Der Flecken Nattwerder
Der Weiler liegt knapp einen Kilometer nördlich der Landungsstelle an der Wublitz und am Rande des Golmer Bruchs. Nattwerder heisst so viel wie «nasse Insel». Hier standen den ersten Einwanderern vier für sie neu errichtete Holzhäuser zur Verfügung. 1867 sind alle Häuser abgebrannt, weil eines der Häuser vom Blitz getroffen wurde und die Häuser zu nahe beieinanderstanden, wie es schon der Berner Stadtarzt Dr. Albrecht Bauernkönig bei seiner Erkundung vor der Auswanderung festgestellt hatte. Die an derselben Stelle neu aufgebauten Häuser bilden zusammen mit dem Predigerhaus (heute im Besitz von Dr. Bleyl) mit der vom Kurfürsten für die Schweizer gestifteten und 1690 eingeweihten Kirche ein ausserordentlich beeindruckendes Ensemble. Bei der Führung durch die schlichte Kirche erfuhren wir, dass die Kirche von vielen Schweizer Siedlern von nah und von fern aufgesucht wurde, insbesondere auch für Hochzeiten. Die Kirche Nattwerder war somit das geistliche Zentrum der Kolonisten.

Kirche Nattwerder, von den Schweizer Siedlern Friedensreichkirche genannt
Beeindruckend war auch das Gespräch bei der Kirche mit dem hoch betagten Herrn Emil Mauerhof, dessen Vorfahren aus Krauchthal stammten und fast seit Anbeginn der Besiedelung im Flecken Nattwerder wohnhaft waren. – Gegen Abend waren wir in Golm vom Ortsbeirat Golm zu einem Apéro eingeladen, wo wir von zwei interessierten Jugendlichen zur Schweizer Auswanderung befragt wurden.
Der Garmatterhof in Neu-Töplitz
Als Einstimmung in den zweiten Tag las uns Rudi Garmatter, Autor des Buches «500jährige Geschichte des Geschlechts Garmatter», aus seinem Buch vor. Nach Neu-Töplitz sind die Familien von Chrispinus Garmatter, Emanuel Durtschi und Isaac Mauerhoffer schon 1691 umgesiedelt, nachdem sie im Golmer Bruch durch die jeweils in den Winter auftretenden Überschwemmungen zermürbt worden waren. Die drei Schweizer Familien konnten diesen Neuanfang in Neu-Töplitz nur wagen, weil sie aus der Schweiz ein ansehnliches Vermögen mitgebracht hatten.

Garmatter Stammhof, Gebäudeanordnung im Rechteck (Vierseitenhof) und Alter Weinberg
262 Jahre lang bewirtschaftete die Familie Garmatter ihr Bauerngut in Neu-Töplitz, bis zur dramatischen Enteignung durch den SED-Staat. In der DDR-Zeit wurden die Kleinbauern alsbald unter Druck gesetzt, in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) einzutreten und ihre Selbständigkeit aufzugeben. Für die noch privat wirtschaftenden Grossbauern wurden die Abgabemengen ständig erhöht, um auch sie zu nötigen, ihre Höfe für wenig Geld an die LPG abzugeben. Weil sich Fritz Garmatter (1899 – 1992) gegen die übermässigen Abgaben zur Wehr setzte, wurde er verhaftet und am 8. Juni 1953 vom Kreisgericht Potsdam-Land zu acht Jahren Zuchthaus und Einziehung des Vermögens verurteilt. Nur dank der beherzten Intervention des Gemeinderates von Golm und von 100 Mitbürgern wurde Fritz Garmatter wieder auf freien Fuss gesetzt. Weil der Hof trotzdem eingezogen wurde, flüchtete die Familie wenig später nach Baden-Württemberg. Nach der Wende erhielten Fritz und Luise Garmatter ihr Eigentum wieder zurück und sie betraten den inzwischen verwahrlosten Hof 1990 erstmals wieder. Die Hofstelle und der Weinberg wurden verkauft, die 85 Hektar Land sind nach wie vor im Besitz der Familie Garmatter und werden verpachtet. Auf dem ehemaligen Garmatter-Weingut wurden wir vom Besitzer Klaus Wolenski empfangen und wir durften den köstlichen Wein degustieren. Mit dem speziell für unsere Exkursion aus Süddeutschland angereisten Wilhelm Garmatter, der Sohn des aus der DDR vertriebenen Fritz Garmatter, besuchten wir den Friedhof Neu-Töplitz, wo noch einzelne Gräber von Einwanderer-Nachkommen vorhanden sind

Wilhelm Garmatter am Grab seiner Grosseltern auf dem Friedhof Neu-Töplitz
Schloss Paretz
Unsere Reisegruppe besuchte die Sommerresidenz Paretz, weil hier David Garmatter (1764 – 1821) ab 1796 bis zu seinem Tod erfolgreicher und zum Beispiel auch von Theodor Fontane bewunderter königlicher Hofgärtner war. Seine Ausbildung hatte er in Sanssouci absolviert und er bildete sich in der Nähe von Kopenhagen zum Fachmann in der Aufzucht und Verbreitung von Obstbäumen weiter, wofür er mehrere Auszeichnungen erhielt. – Zum Abschluss des zweiten Exkursionstages bereitete uns die Stadt Werder, vertreten durch den 1. Beigeordneten Christian Grosse einen freundlichen Empfang. Nach der ersten Einwanderung folgte 1691 schon eine zweite Gruppe aus der Schweiz. In den folgenden Jahren wanderten rund 2200 Menschen aus der ganzen Schweiz nach Brandenburg aus, darunter auch Leute, die nichts von der Landwirtschaft verstanden, so dass sie teils von deutschen Bauern angeleitet werden mussten. Ausgehend vom Golmer Bruch waren später nicht wenige Garmatter an der Kolonisation des Ostens beteiligt, bis an die Oder und nach Posen im heutigen Polen. Die Auswanderer-Familie Chrispinus und Eva Garmatter-Durtschi sind die Vorfahren aller in Deutschland lebenden Garmatter/Jahrmatter sowie der Garmatter in Brasilien und der Yahrmatter in den USA. Für die überaus gelungene Exkursion und den ausserordentlich freundlichen Empfang in Brandenburg danken wir allen Beteiligten recht herzlich, den Gästen aus Deutschland, den Referentinnen und Referenten, dem Familienforscher Rudi Garmatter und insbesondere den Organisatoren Henning Heese aus Phöben, Dr. Bleyl aus Nattwerder und Hans Feuz aus Thierachern.
Hans Jörg Kast – Verein Geschichte Thierachern